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VVK Start: 15.02.2019
unter: wuppertal-live.de & punk.de
SLIME sind wieder da und wir brauchen sie dringender als je zuvor: „Hier und Jetzt“, das erste SLIME-Album mit neuen Liedern seit 1994, ist ein mitreißendes Dokument zur Zeit und auch musikalisch das bislang beste Album der Punklegenden. Keine Nostalgie, nichts klingt altbacken – der Titel ist weit mehr als nur Symbolik.
Natürlich würde die Gruppe SLIME gerne auch mal darüber singen, wie schön das Leben in einer freien und solidarischen Gesellschaft ist, wo sich alle immer nur lieb haben. Allein: Die Verhältnisse geben das nicht her. Und so gibt es auch auf „Hier und Jetzt“ keine schönen Liebes-, Sauf-, und Fußballlieder, sondern es geht um neue und alte Nazis, Biedermänner und Brandstifter, Entsolidarisierung in neoliberalen Zeiten und um Gentrifizierung. Es ist also alles wie immer – und doch ganz anders.
„Zum Beispiel sind thematisch durchaus einige Dinge hinzugekommen“, sagt SLIME-Gitarrist Christian Mevs. „Als großes Problem betrachten wir die Hinwendung zum totalen Individualismus, dieser extreme Narzissmus, zum Beispiel in den sozialen Medien, bedroht die Freiheit, weil damit eine Entsolidarisierung einhergeht.“ „Früher hat man sich gegen die Volkszählung aufgelehnt“, ergänzt SLIME-Sänger Dirk „Dicken“ Jora. „Heute geben die Leute ihre Daten ganz von selbst preis. Man macht sogar seine Bankgeschäfte selbst und zahlt dafür auch noch, und kaum einer scheint sich daran zu stören.“ Eine Entwicklung, die, so Michael „Elf“ Meyer „die hemmungslose Ausbreitung des Turbokapitalismus maximal begünstigt.“
Für ihre politische Haltung sind SLIME bekannt, sie ist ein elementarer Bestandteil ihres künstlerischen Selbstverständnisses. „Unsere wesentliche Motivation hat sich vom ersten Tag an aus dem dringenden Bedürfnis gespeist, Protestlieder machen zu wollen“, sagt Mevs. Insofern hat sich auf den ersten Blick nicht viel geändert auf „Hier und Jetzt“. Was in der öffentlichen Wahrnehmung der vielleicht wichtigsten deutschen Punkband aber traditionell zu kurz kommt, sind die enorme Musikalität und die stilistische Breite, mit der SLIME ihre Anliegen vermitteln – und genau dieser Aspekt wird sich spätestens mit dem neuen Album nicht mehr länger ignorieren lassen.
Auch wenn schließlich alles innerhalb von vier Wochen in einem Rutsch im Studio aufgenommen wurde: Noch nie haben SLIME so lange über ein Album nachgedacht und so gründlich alles vorbereitet. Und diese Akribie hört man in jeder Note. Kein Ton auf „Hier und Jetzt“ klingt nostalgisch oder überholt. SLIME bewegen sich stilsicher von Reggae (die Gentrifizierungshymne „Ich kann die Elbe nicht mehr sehen“) zu Folk und Powerpop („Ernie und Bert in Guantanamo“). Mit den Rappern Swiss und Pablo Charlemoine von Irie Révoltés integrieren sie für das wütende „Patrioten“ HipHop, eingeleitet wird der Song mit der „Schandmal-Rede“ des AFD-Politikers „Bernd“ Höcke. Und gemeinsam mit Enrico von der italienischen Punkband Los Fastidios und Paul von den schottischen Wakes gelingt ihnen mit „Let‘s Get United“ eine kraftvolle Solidarisierungshymne gegen Ignoranz und neoliberale Individualisierung, die den Geist dieses Albums spiegelt wie kaum ein anderer Song.
Es gibt noch andere Gäste: Der heutige Verleger und, unter dem Namen „Lobster“, frühere Gitarrist der Berliner Punkband Beton Combo, Frank Nowatzki, ist ebenso dabei wie Rodrigo Gonzales von den Ärzten, der den „Kein-Nazi-aber-Kracher“ „Banalität des Bösen“ veredelt. Außerdem sind die Bläser der Gruppe Seeed und der Kinderchor Kids On Stage zu hören, gemischt hat das Album Oliver Zülch (Die Ärzte, Sportfreunde Stiller, Die Toten Hosen u.a.). Gemeinsam ist all diesen Gästen, dass sie der SLIME-Musik zusätzliche Farben verleihen, ohne sie zu dominieren.
Seit 2010 gibt es die Gruppe SLIME wieder, und jeder einzelne Tag seitdem hat auf das Konto dieses Albums eingezahlt, insbesondere die vergangenen fünf Jahre. In der Besetzung Dirk „Dicken“ Jora, Michael „Elf“ Mayer, Christian Mevs und den damals hinzugekommenen Nici (Bass) und Alex Schwers (Schlagzeug) hatten SLIME 2012 für „Sich fügen heißt Lügen“ Texte des anarchistischen Autors Erich Mühsam vertont. Und nun kommt mit „Hier und Jetzt“ also das erste SLIME-Album mit neuen und komplett eigenen Liedern seit „Schweineherbst“ von 1994.
Woher kommt nach so langer Zeit die Motivation? „Zunächst haben wir damals wieder angefangen, weil wir einfach Bock hatten“, sagt Mevs. Dann aber seien immer wieder junge Leute auf sie zugekommen und hätten ihnen gesagt, wie wichtig SLIME für sie waren und sind. Die Botschaften, die freiheitlich-solidarische Philosophie dieser Band. „Die Leute haben sich gefreut, dass wir wieder da sind“, sagt „Dicken“. „Und einer meinte: ‚wir brauchen euch hier und jetzt‘“ – daher kommt der Titel dieses Albums.
Natürlich hat der Mann Recht: „Mir wäre es lieber, unsere Lieder wären nicht mehr aktuell und niemand würde sie noch singen“, singt „Dicken“ in dem an die Wipers erinnernden Song „Unsere Lieder“. Doch so ist es leider nicht: SLIME sind
VÖ: 29.09.2017
heute wichtiger und aktueller denn je, das gilt für die alten und erst Recht für ihre neuen Lieder. „Hier und Jetzt“ versprüht Kraft und Relevanz mit jeder Note, man spürt eben ganz genau, wie sehr all diese Gedanken und Töne und Melodien mit dem Hier und Jetzt, dem aktuellen Zeitgeist zu tun haben.
Ob sie das überhaupt auf diesem Niveau hinbekommen würden, war lange unklar. Die Musiker führen unterschiedliche Leben in verschiedenen Städten. Was sie verbindet, ist vor allem die gemeinsame Liebe zur SLIME-Musik. „Es ist eine große Kunst, dass wir überhaupt noch zusammen sind, weil wir nämlich total verschieden sind“, sagt Mevs. „Dirk hätte ich ohne SLIME niemals kennengelernt. Unter diesen Umständen trotzdem weiterzumachen, dazu gehören ein Wille und die Bereitschaft, unterschiedliche Charaktere zusammenzuführen, es ist immer auch ein Kampf.“
Ein Kampf allerdings, der arbeitsteilig zu idealen Ergebnissen führt. Grundsätzlich bringt sich hier jede und jeder in sämtliche Prozesse ein, aber es gibt auch gewisse Schwerpunkte in der Rollenverteilung, von denen die Musik enorm profitiert: Gitarrist „Elf“, gewissermaßen das musikalische Genie der Band, komponiert immer noch die Grundlagen aller Songs und bereitet in seinem Heimstudio das Meiste vor. Mitkomponist und Gitarrist Christian Mevs wiederum ist seit 30 Jahren Studiobetreiber, war mit seinem Soundgarden-Studio in den Neunzigern eine wichtige Figur für die Hamburger Schule und betreibt heute ein Studio in Berlin, wo er auch „Hier und Jetzt“ produziert hat. Die Bassistin Nici betreibt in Bremen eine linke Kneipe und verkörpert in besonderem Maße die Polit-Tradition der Band. So trägt Nici immer wieder aktuelle Debatten in die Band, deren Sound sie mit einem treibenden Bass grundiert. Alex Schwers ist derweil ein herausragend guter Schlagzeuger und außerdem ein umtriebiger Netzwerker, der unter anderem das Ruhrpott-Rodeo veranstaltet. Und Dirk „Dicken“ Jora ist natürlich immer noch einer der besten Punk-Frontmänner und –Sänger überhaupt, ein Mann von besonderer Ausstrahlung und Wirkung. Grundsätzlich lautet die SLIME-Formel 2017 also: Alle machen alles, aber jede und jeder hat seinen besonderen Bereich.
Diese Konstellation und Aufgabenverteilung sowie die Hinzunahme und Auswahl der Gäste sind Belege für die uneitle, ergebnisorientierte Herangehensweise der Gruppe SLIME. Das gilt nicht zuletzt für die Texte: Wie immer haben alle Mitglieder der Band auch hier Ideen eingebracht und Themen gesetzt. Ihr Wunsch nach Weiterentwicklung führte indes zu einer Zusammenarbeit mit dem Musiker und Texter Max-Richard Leßmann, der bereits mit Prinz Pi, Madsen und zahlreichen anderen geschrieben hat. „Über die Inhalte können wir uns sehr gut einigen, die ergeben sich fast von selbst“, sagt Dirk „Dicken“ Jora. „Aber manchmal ist es eben wichtig, die Form ein bisschen abzuwandeln – und hier war Max eine Hilfe.“
Es ist ein absoluter Segen, dass SLIME den kreativen Kampf wiederaufgenommen – und ihm nun einige der besten und wichtigsten Songs ihrer Karriere entrissen haben. Denn es ist ja so: In einer Zeit, in der eine zeitgemäße linke Protestbewegung nicht in Sicht ist, treffen SLIME mit ihren direkten Botschaften den Zeitgeist mitten zwischen die Augen. Denn natürlich haben SLIME auch 2017 andere Karriereziele als die meisten anderen Bands: „Ich hoffe, dass jetzt vielleicht endlich mal wieder was passiert“, sagt Nici. „Wenn dieses Album der Soundtrack zu einer neuen solidarischen Protestbewegung werden würde, hätten wir alles erreicht.“
Dass sie darüber hinaus heute eine der musikalisch explosivsten und komplettesten Punkbands der Republik sind, unterstreicht ihr Anliegen auf kongeniale Weise. „Heute können wir alle mit erhobenem Kopf sagen: das ist ein richtig gutes und frisches SLIME-Album – und nicht Musik von ein paar alten Säcken, die noch mal auf Tour gehen wollen.“ Besser als Dirk „Dicken“ Jora kann man es nicht auf den Punkt bringen. Denn eins ist eh klar: Einer muss den Job ja machen.