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Liebe Lesenden! Wie ihr vielleicht mitbekommen habt, mussten wir das Bierschinken eats FZW Festival im April und somit die Feierlichkeiten zu unserem 20. Geburtstag aus wohlbekannten Gründen absagen. Eine leider notwendige Entscheidung. Viele von euch haben damals bereitwillig darauf verzichtet, das Geld für die bereits gekauften Tickets zurück erstattet zu bekommen - vielen lieben Dank dafür! Auch wenn wir zunächst noch nicht so wirklich wussten, was wir damit anfangen sollten. Dank Unterstützung durch das Jugendamt war das Bierschinken eats FZW nie hohen finanziellen Risiken ausgesetzt, und auch sonst haben wir keine nennenswerten Kosten, die uns irgendwie in Bedrängnis bringen würden. Wir haben uns daher gemeinsam mit unserem Partner Bakraufarfita Records entschieden, das Geld lieber dorthin zu geben, wo es wirklich gebraucht wird und auch etwas bewirken kann. Dank Bakraufarfita konnten wir den Betrag noch aufstocken auf insgesamt 699 Euro.
Die Organisation, für die wir uns entschieden haben, lautet "European Lawyers in Lesvos" (ELIL). In dem Rahmen konnten wir Geschäftsführer Phil Worthington für ein kleines Email-Interview gewinnen, in dem er uns erzählt, was genau ELIL macht. Mehr Informationen und Spendenmöglichkeiten findet ihr unter www.europeanlawyersinlesvos.eu
Bierschinken: Wie lässt sich die Arbeit von ELIL kurz und knapp erklären?
ELIL: European Lawyers in Lesvos („ELIL“) ist eine in Deutschland und Griechenland registrierte Wohltätigkeitsorganisation. Es wurde vom Council of Bars and Law Societies of Europe (CCBE) und dem Deutschen Anwaltverein (DAV) 2016 gegründet und wird mittlerweile auch von der Französischen Anwaltskammer (CNB) unterstützt. Unser Team besteht aus griechischen AsylanwältInnen und freiwilligen europäischen AsylanwältInnen und bietet kostenlose, unabhängige rechtliche Hilfe für AsylbewerberInnen auf den griechischen Inseln Lesbos und Samos.
Zehntausenden von Flüchtlingen auf den griechischen Inseln steht keine staatliche Hilfe zur Verfügung, weswegen sie oft ihre Rechte und Pflichten nicht kennen oder das Asylantragsverfahren nicht verstehen können.
Durch unsere Arbeit tragen wir zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, zur Verteidigung der Menschenrechte und zur Gewährleistung eines möglichst fairen, effizienten und zuverlässigen Asylverfahrens bei.
Bierschinken: Was sind typische Fälle, um die ihr euch kümmert?
ELIL: Unsere Haupttätigkeit ist die Bereitstellung von Einzelkonsultationen, um Asylsuchende auf ihre Asylanhörung vorzubereiten. Jede Person, die wir unterstützen, nimmt an mindestens zwei Sitzungen teil, in denen sie rechtliche Informationen, praktische Unterstützung und maßgeschneiderte Beratung erhält.
Über die Hälfte der derzeit auf Lesbos lebenden Flüchtlinge sind Frauen und Kinder, darunter fast 1.000 unbegleitete Minderjährige. Ein wichtiges Element unserer Arbeit ist es, Familien wieder zusammenzubringen und bei Anträgen auf Wiedervereinigung gemäß der Dublin-Verordnung zu helfen. Wir bieten auch spezielle rechtliche Unterstützung für Minderjährige, einschließlich unbegleiteter Kinder, die fälschlicherweise als Erwachsene registriert sind.
Mit Zahlen auf den Inseln auf einem Rekordhoch hat nicht jeder direkten Zugang zu einer Vertretung in Rechtsangelegenheiten. Vor diesem Hintergrund führen wir Gruppensitzungen durch, die sich auf marginalisierte und besonders schutzbedürftige Gruppen konzentrieren, denen normalerweise größere Hindernisse beim Zugang zu rechtlicher Betreuung gegenüberstehen.
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Bierschinken: An welchen Projekten arbeitet ihr aktuell?
ELIL: Seit 2016 arbeitet ELIL im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Das Lager beherbergt derzeit fast 21.000 Flüchtlinge, mehr als das Sechsfache seiner offiziellen Kapazität. Wir leisten Rechtsberatung in zwei Containern im „Olivenhain“, einer informellen Siedlung direkt vor dem Lager selbst, und in unserem Büro in der Stadt Mytilini. Wir arbeiten auch in der Haftanstalt in Moria.
Um dem wachsenden Bedarf an rechtlicher Hilfe auf der ganzen Insel gerecht zu werden, haben wir Ende 2019 begonnen, Rechtsberatungen und Informationsveranstaltungen in Kara Tepe durchzuführen, einem Lager, in dem 1.200 der schutzbedürftigsten AsylbewerberInnen auf Lesbos untergebracht sind, von denen die überwiegende Mehrheit Familien mit Kindern sind .
Ab Juni 2020 starten wir ein neues Projekt auf Samos, wo derzeit weniger als zehn AnwältInnen für die Bedürfnisse von fast 7.000 schutzbedürftigen Menschen zuständig sind. Das Camp auf Samos hat mehr als das Zehnfache seiner Kapazität und unser neues Team dort wird, sobald es voll funktionsfähig ist, aus sechs AnwältInnen bestehen, wodurch die Kapazität für Rechtsberatung auf der Insel erheblich erhöht wird.
Bierschinken: Welche Ziele habt ihr seit Beginn eurer Arbeit erreicht?
ELIL: Seit der Inbetriebnahme vor vier Jahren hat ELIL über 11.000 AsylbewerberInnen geholfen. Insbesondere haben wir auch über 700 unbegleitete Minderjährige unterstützt, insbesondere in Bezug auf ihre Anträge auf Wiedervereinigung mit Familienmitgliedern in anderen EU-Ländern.
Unsere Arbeit hat echte Auswirkungen: Von den von uns unterstützten Personen wurde 74,5% Asyl gewährt, verglichen mit durchschnittlich 46,5% in Griechenland.
Bierschinken: Wie viele Freiwillige sind an ELIL beteiligt und welche Voraussetzungen müssen sie erfüllen?
ELIL: In den letzten vier Jahren haben rund 250 Freiwillige aus 18 verschiedenen europäischen Ländern unsere Arbeit ermöglicht, die über 41.000 Stunden unermüdliche Arbeit geleistet haben.
Über 220 dieser Freiwilligen waren AnwältInnen, und wir sind der Ansicht, dass dies ein bedeutender Beweis für die Solidarität der europäischen Anwaltschaft ist.
Unsere Freiwilligen sind praktizierende und erfahrene AsylanwältInnen, die durch ein strenges Auswahlverfahren identifiziert wurden. Jeder freiwillige Asylanwalt bzw. -anwältin bleibt mindestens drei Wochen. Wir haben auch Unterstützung von freiwilligen RechtsreferendarInnen.
Wir verlassen uns außerdem auf die unschätzbare Arbeit von professionellen Dolmetschern und Freiwilligen auf Arabisch und Persisch, die es uns ermöglichen, klar und effektiv mit den Menschen zu kommunizieren, denen wir helfen. Wir freuen uns auch über Bewerbungen von Freiwilligen mit Kenntnissen in Fotografie, Grafikdesign oder Kommunikation.
Informationen zu Freiwilligenangeboten und zur Bewerbung findet ihr unter:
https://www.europeanlawyersinlesvos.eu/volunteer
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Bierschinken: Unterscheidet sich die Zusammenarbeit mit den griechischen Behörden und das griechische Recht von dem, was ihr in euren Heimatländern gewohnt seid?
ELIL: Unsere Arbeit bringt uns in regelmäßigen Kontakt sowohl mit griechischen als auch mit europäischen Behörden. Fallbearbeiter des EASO (European Asylum Support Office) führen normalerweise die Anhörung durch, anschließend trifft die griechische Asylbehörde die endgültige Entscheidung.
Das Asylrecht in der EU ist von Land zu Land ähnlich, da ein Großteil davon auf EU- und internationalem Recht basiert. Dies bedeutet, dass unsere freiwilligen europäischen AsylanwältInnen bereits ungefähr 90% des Wissens aus ihrer Erfahrung in ihrem eigenen Land mitbringen. Anschließend bieten wir eine umfassende Schulung an - online und persönlich -, um zusätzliche Kenntnisse über die griechischen Gesetze und den Kontext zu vermitteln. Jede/r Freiwillige wird von einem unserer griechischen AnwältInnen betreut, mit täglichen Teambesprechungen und wöchentlichen Einzelgesprächen, um die Fälle durchzugehen.
Bierschinken: Mit welchen anderen Organisationen arbeitet ELIL zusammen?
ELIL: Wir arbeiten eng mit anderen juristischen NGOs zusammen und auch mit Schutz- und medizinischen Organisationen, insbesondere mit UNHCR, IRC, Médecins Sans Frontières und Médecins du Monde, die uns häufig besonders schutzbedürftige Personen vermitteln, die rechtlicher Hilfe bedürfen. Unsere enge Zusammenarbeit mit diesen Organisationen ermöglicht es uns, Informationen auszutauschen und Doppelarbeit zu vermeiden.
Im Allgemeinen leisten die in Griechenland tätigen Rechtsorganisationen Unterstützung in einer Vielzahl von Fragen im Zusammenhang mit AsylbewerberInnen (einschließlich Rechtsbehelfen, Gerichtsverfahren, Strafsachen usw.). Im Vergleich dazu konzentriert sich ELIL auf zwei Schlüsselbereiche - die Vorbereitung von Anhörungen in erster Instanz und die Familienzusammenführung -, die es uns ermöglichen, unser Fachwissen auf diese kritischen Elemente des Verfahrens zu konzentrieren und vor allem mehr AsylbewerberInnen rechtlich zu unterstützen. Wenn sich eine Person wegen einer Angelegenheit an uns wendet, die außerhalb unseres Arbeitsbereichs liegt, versuchen wir, sie an eine andere Rechtsorganisation weiterzuleiten, die möglicherweise helfen kann.
Wir arbeiten auch mit Partnern wie Defence for Children International (DCI) und Kids in Need of Defense (KIND) bei Fragen auf europäischer Ebene zusammen, beispielsweise bei der Forderung nach Umsiedlung unbegleiteter Minderjähriger aus den griechischen Lagern in andere EU-Länder.
Bierschinken: Was sind die Hauptprobleme, auf die ihr bei der Arbeit stößt?
ELIL: Bis zum letzten Jahr war eines der Hauptprobleme bei der Rechtsberatung, dass das Verfahren sehr langsam war und es bis zu einem Jahr oder länger dauern konnte, die Fälle zu bearbeiten. Dies bedeutete jedoch auch, dass die Leute genügend Zeit hatten, zu unseren Containern (oder denen einer anderen Organisation) zu kommen und Rechtsbeistand zu suchen.
Nach dem neuen Asylgesetz, das im Januar 2020 in Kraft trat, werden Anhörungstermine häufig bereits drei bis zehn Tage nach der Ankunft festgelegt. Das führte leider dazu, dass es jetzt sehr schwierig ist, Menschen innerhalb dieses extrem kurzen Zeitrahmens Hilfe zu leisten. Darüber hinaus ändern sich die relevanten Gesetze, Verfahren und Richtlinien häufig, sodass wir unsere Arbeit ständig anpassen müssen, um so effektiv wie möglich zu sein.
Nicht jeder auf den Inseln hat die Möglichkeit, mit einer Anwältin oder einem Anwalt zu sprechen. Auf Lesbos gibt es nur rund 20 AnwältInnen, die AsylbewerberInnen helfen, und auf Samos noch weniger. Bei Zahlen auf dem aktuellen Höchststand bedeutet dies, dass auf 1.000 Personen ungefähr ein/e AnwältIn kommt. Unter diesen Umständen können wir nur versuchen, so viele Menschen wie möglich zu erreichen.
Bierschinken: Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die Situation aus?
ELIL: Griechenland verhängte bereits frühzeitig einen umfassenden Lockdown. Als immer mehr europäische Länder Maßnahmen ergriffen, um ihre Bürger vor der Covid-19-Pandemie zu schützen, konnten sich viele Asylsuchende nicht schützen oder die erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen einhalten und hatten keinen Zugang zu vielen wichtigen Diensten, die während des Lockdowns ausgesetzt waren.
Unsere Arbeit hat sich in dieser Zeit erheblich verändert. Wir hatten unsere Arbeit im Lager bereits eingestellt, bevor Maßnahmen zur Sperrung ergriffen wurden, da wir uns um das Wohlergehen unserer Freiwilligen und vor allem der Asylsuchenden selbst sorgten. Da die Asylbehörde vorübergehend nicht tätig war, leisteten wir weiterhin Hilfe aus der Ferne und bewerteten ständig, wie die dringendsten Bedürfnisse von Flüchtlingen am besten erfüllt werden können. Darüber hinaus haben wir mit unseren Partnern und politischen Verbündeten zusammengearbeitet, um die Umzüge unbegleiteter Minderjähriger in andere EU-Mitgliedstaaten voranzutreiben.
Nachdem der Lockdown ab Mitte Mai gelockert wurde, kehrte unser Mitarbeiterteam zur Arbeit im Büro in Mytilini zurück und begann mit der Arbeit auf Samos, wobei alle erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen und Vorsichtsmaßnahmen eingehalten wurden. Die griechische Asylbehörde wurde am 18. Mai nach mehr als zwei Monaten wiedereröffnet. Wir arbeiten hart daran, dass wir die Asylanhörungen so sicher und effektiv wie möglich vorbereiten, mit unschätzbarer Unterstützung unseres globalen Freiwilligennetzwerks. In der Zwischenzeit wurde der Lockdown für die Lager zunächst bis zum 21. Juni und nun sogar bis zum 5. Juli verlängert, wodurch die Bewegungsfreiheit der Bewohner und die Dienste, zu denen sie Zugang haben, eingeschränkt wurden.
Bierschinken: Vielen Dank für eure Zeit und eure wertvolle Arbeit!
Fö 06/2020