100 Kilo Herz – da geht der erste Gedanke unweigerlich zum gleichnamigen Hit von Muff Potter. Nach den ersten Tönen ergibt sich jedoch eine andere Möglichkeit: Sind das die neuen Feine Sahne Fischfilet? Um das herauszufinden, verabredet Bierschinken ein Interview mit der Band, natürlich kontaktfrei und höchststeril per Videokonferenz mit Clemens (Gitarre) und Rodi (Gesang & Bass). Trotzdem muss es auch Fotos geben, da ihr während Corona sicherlich schon Entzugserscheinungen habt. Deshalb wird der verbale Teil mit einem visuellen ergänzt: Die Band darf (aka muss) sieben Fragen per Foto beantworten.
Phil: Wie würdet ihr selbst eure Musik beschreiben?
Clemens: Punkrock, oder?
Rodi: Punkrock mit Bläsern steht oft irgendwo. Wir haben mal versucht den Begriff „Brass Punk“ zu etablieren, aber das hat nicht funktioniert.
Phil: Und nicht Ska-Punk?
Clemens: Wenn ich an Ska-Punk denke, muss ich eher an Amibands wie Less Than Jake oder Reel Big Fish denken.
Rodi: Tatsächlich hat bei unseren Konzerten in den letzten Jahren das klassische Ska-Publikum uns nicht so ganz angenommen. Bei Punkrock-Konzerten - egal ob das jetzt Fahnenflucht, Dritte Wahl oder Rantanplan war – hat das komplette Publikum das dafür voll angenommen. Bei uns ist einfach Pogo und Ausrasten angesagt, darauf ist das Ska-Publikum nicht so eingestellt.
Foto-Frage: Wer sind eure musikalischen Vorbilder?
Phil: Ihr habt schon in anderen Interviews von eurem Aufwachsen in ostdeutschen Dörfern und Kleinstädten erzählt und wie Nazis euch dort das Leben schwer machten. Damit können sich sicherlich viele identifizieren, egal ob in Ost oder West. Wollt ihr mit eurer Musik mehr Mut machen oder unterhalten?
Clemens: Sowohl als auch! Es ist doch schön, wenn man sein Rebellieren oder seinen Kampf auch noch mit guter Laune verbinden kann. Beziehungsweise, dass man weiß, dass man das nicht allein machen muss und dabei auch nicht traurig oder schwerfällig sein muss.
Rodi: Wir haben ja auch ernsthafte Themen und es macht automatisch Mut, wenn man weiß, dass man damit nicht allein ist. Mir haben zum Beispiel Fahnenflucht und Dritte Wahl in meiner Jugend mega geholfen. Die haben davon gesungen, wie es ist Stress mit Nazis zu haben und damit konnte ich mich identifizieren. Ich habe dann gemerkt, dass ich nicht allein mit den Problemen bin, davon gibt es mehr. Jetzt merken wir, dass das bei uns ähnlich ist, wenn wir in die Dörfer kommen und da stehen Jugendliche und erzählen uns, dass sie die Probleme kennen. Das hilft glaube ich sehr, dass man nicht allein ist und dass man eventuell auch mal einfach einen Abend dort ausbrechen kann.
Foto-Frage: Wieso habt ihr euch nach einem Muff-Potter-Hit benannt?
Phil: Euer Album wurde im Winter 2019/2020 aufgenommen, also in einer Zeit als rechter Terror Deutschland erschütterte. Welchen Einfluss hatten Halle, Hanau und die AfD auf euer Album?
Rodi: Es ist super beschissen und es war teilweise sehr schwer, nicht in so eine Stimmung zu kommen, dass das alles klingt wie: „Wir haben es euch doch gesagt.“ Teilweise war die Gefahr von rechts schon auf der ersten Platte Thema und ganz viele andere Bands sagen seit Jahren, dass diese immer größer wird. Einige der Texte sind bereits vor den Ereignissen geschrieben in der Stimmung, die immer mehr durch die AfD aufgeheizt wird. Scheren fressen hat klar seine Basis in den Geschehnissen um Lübcke und der Rest ist daraus entstanden, dass da immer mehr passiert und auch wirklich offensichtlich mehr passiert. Danach wurde immer wieder gesagt „Das war jetzt ein Warnschuss“ und dann passiert trotzdem politisch nichts weiter. Es gibt immer noch keine Strukturen, die wirklich effektiv dagegen arbeiten und die Ereignisse waren leider eine bittere Bestätigung für das Album.
Foto-Frage: Ihr seid eine Ska-Punk-Band in Ostdeutschland: Werdet ihr auch vom Verfassungsschutz beobachtet?
Phil: In Der Späti an der Klinik beschreibt ihr eine kaputtmachende Liebe. Um wen oder was geht es da wirklich? Leipzig oder eine Person?
Rodi: Also, da steckt vieles drin. In dem Lied stecken Teile von einer Beziehung, die aber auf keinen Fall kaputt macht, sondern eher eine sehr schön ist. Und es stecken die gemischten Gefühle zu Leipzig drin. Ich mag Leipzig unglaublich gern. Ich bin hierhin gezogen, weil ich hier immer auf gewisse Art und Weise zuhause gefühlt hab, weil hier die meisten Leute wohnen, die ich kenne und mag. Nichtsdestotrotz gibt auch hier Probleme: Leipzig liegt in Sachsen, Sachsen liegt in Deutschland, Deutschland liegt in der Welt und es gibt in der ganzen Welt Probleme. Ich mag das Glorifizieren von Städten auch generell nicht, auch wenn es das unglaublich oft im Punkrock gibt. Man kann das mögen, wo man ist und kann aber trotzdem daran auch Sachen finden, die einen immer wieder kritisch treffen, auch zum Nachdenken bringen oder überfordern.
Clemens: Unabhängig davon kann ich nur sagen, dass Spätis so ein interessanter Hotspot sind. Da trifft sich jeder, egal ob er da Alkohol, Toastbrot oder Milch kaufen möchte. Das ist immer ein schöner, sehr lieber Platz. Ich kann mich an keine Situation erinnern, wo es beim Späti mal Stress oder Ärger gab.
Phil: In Tresenfrist werft ihr einen kritischen Blick auf übermächtigen Alkoholkonsum. Wie steht ihr denn dann zu „denn solange wir noch kriechen können, geht noch einer rein?“
Clemens: Das ist eine Hymne, oder nicht?
Rodi: Wir haben Filmriss ja auch auf fast allen Konzerten im letzten Jahr gespielt, obwohl wir am Anfang der Band gesagt haben, dass wir alles covern können, außer Filmriss. Das covern einfach alle. Und dann lief es trotzdem ständig im Tourbus und wir haben es doch ausprobiert, um zu sehen, wie es mit Bläsern funktioniert. Es funktioniert sehr gut.
Clemens: Aber wer war denn das, der mir erzählte, dass Claus diesen Song eigentlich zynisch, sarkastisch und null ernst meinend geschrieben hat? Also: Die ganze Szene feiert das ab, obwohl der Song eigentlich einen sehr kritischen Blick auf den Alkoholkonsum wirft?
Rodi: Ich finde durchaus, dass der Song einen sehr zynischen und sarkastischen Unterton hat, wenn man den sehen will.
Phil: Auf euren Parties läuft ...aus den Boxen ...But Alive zum glücklich werden. Klappt das?
Clemens: Klar klappt das. …But Alive ist eine der stärksten Punkrock-Bands, die es gibt. Man ist doch glücklich, wenn man schön laut mitsingen kann: Endorphine kommen nach oben und man freut sich, dass man feiern kann.
Rodi: Es war einfach die passendste Band, wenn ich – wie in Beste Waffe, der meiner Meinung nach einer ihrer besten Songs ist – ein Partysetting schildere. Der Song ist anders als bei Marcus Wiebusch, aber ich halte es für eine schöne Referenz, …But Alive in dem Partysong einzusetzen.
Foto-Frage: Was für ein Gefühl war es, als Bakraufarfita euch einen Plattendeal anbot?
Phil: Was macht für euch eine gute Live Show aus? Womit sollten Besucher*innen eurer Konzerte rechnen?
Clemens: Wenn Marco das komplette Konzert auf beiden Füßen stehen bleibt und nicht umfällt: Das ist schon mal die halbe Miete. Das hat er im letzten Jahr nicht ganz geschafft, aber er arbeitet dran.
Rodi: Marco spielt die andere Gitarre und ist zweimal werbewirksam für uns umgefallen. Alles für die Show, nicht weil wir ungeschickt sind. Also meiner Meinung nach sollte es rund sein und nicht auf uns bezogen, Ich mag es, wenn ich die Texte mit Leuten mitsingen kann. Das zeigt nochmal, dass die Leute alle gemeinsam etwas mit der Musik verbinden und sich damit beschäftigt haben.
Clemens: Was es definitiv nicht geben wird, darüber haben wir gestern im Proberaum gesprochen, sind sinnlose Animationssachen von wegen „Heheheja“ und „Uhuhuh“ oder jetzt kommt mal alle nach vorne und jetzt geht man nach hinten und jetzt steht nochmal alle auf dem rechten Bein. Es gibt auch keine durchgeplanten Shows, wie das ja ein paar andere Bands machen, bei denen auf der Setlist so viel Unfug steht. Das gehört für mich nicht in eine Punkrock-Show. Diese lebt und man arbeitet mit dem Publikum und das hat keinen Bock oder eben doch.
Phil: Wie war es denn für euch, als ihr euer erstes großes Konzert gespielt und mitbekommen habt, dass echt viele Leute eure Texte mitsingen?
Rodi: Das war zwar kein großes Konzert, aber bis heute wahrscheinlich mit das beste: Das Wohnzimmerkonzert letztes Jahr. Das war in einem sehr, sehr kleinen Club, dafür haben wir mega viel Aufwand gehabt, Gedanken gemacht und wussten die Arbeit gar nicht einzuschätzen. In 2018 haben wir größtenteils als Vorband von anderen Bands gespielt, vor allem in Leipzig und dies war unser erstes Konzert, wo wir sozusagen Headliner waren. Wir wussten nicht wirklich, wie viele Leute kommen und mussten dann einen Vorverkauf organisieren, weil schon vorab Leute schrieben, dass sie aus Berlin oder Magdeburg kommen wollen. Da war es schon im Vorfeld surreal, was passierte. Und ab dem ersten Song haben die Leute auch noch die Bläsermelodie mitgesungen und sind eine Stunde komplett ausgerastet. Da ist mir aufgefallen, dass das irgendwie gerade was anderes ist, was da passiert, im Gegensatz zu den anderen Konzerten als Support, wo 10-20 Leute in Leipzig kamen, weil das unsere Kumpels waren. In anderen Städten bekamen wir freundliches Interesse.
Clemens: Das krasseste für mich waren die drei Konzerte letztes Jahr in der Schweiz, weil selbst da Leute waren, die teilweise alle Texte kannten. Da waren wir in einem anderen Land, wo Leute leben, mit denen wir nichts zu tun haben und die kennen unsere Texte. Das war so surreal.
Foto-Frage: Wenn jemand das Saxophon-Solo in „Träume (Reprise)“ als so ikonisch wie in George Michaels „Careless Whisper“ nennen würde, wäre das ein Kompliment?
Phil: In diesem Sommer solltet ihr eigentlich einige Festivals spielen. Nun sind die meisten wegen Corona abgesagt. Was macht ihr mit eurer gewonnenen Freizeit?
Rodi: Bier trinken und spazieren gehen.
Clemens: Ja, was willst du da jetzt für ne Antwort drauf haben? Es ist richtig frustrierend, es ist richtig nervig, es ist richtig schade. Es geht ja nicht darum, wo man spielt, sondern es geht einfach nur um die Tatsache, dass man das Glück hat, Konzerte zu spielen. Das fehlt wie Sau. Man sitzt manchmal Freitag um 11 auf Arbeit und denkt sich „eigentlich müsste in zehn Minuten der Bus draußen vor der Tür stehen, dann fahren wir zum Proberaum, laden unser Stuff ein und drei Stunden später haste ein Bier offen und kannst schön auf ein Konzert fahren“. Wenn ein Konzert ausfällt, ist das noch ganz okay. Aber jetzt jedes Wochenende, dass ist mittlerweile ziemlich frustrierend.
Rodi: Ich muss minimal widersprechen. Also, es ist super schade. Ich finde es nicht so schlimm, wie ich es erwartet hätte. Aktuell bin ich zufrieden und froh, einfach weil es mir und den Leuten, die ich kenne, gut geht und ich gesund bin. Es sterben halt gerade Menschen. Klar ist es schade, dass die Konzerte ausfallen, aber wir holen die irgendwann nach. Davor war es ein Privileg, diese Konzerte spielen zu können, gerade ist es ein Privileg, am Leben zu sein und sich oft genug die Hände waschen und Abstand von Menschen halten zu können, was andere gerade nicht können, weil sie in irgendwelchen Flüchtlingslagern sitzen und im Grunde einfach bloß darauf warten, zu sterben. Deswegen ist es schade, aber es ist ok, weil wir das irgendwann nachholen können.
Foto-Frage: Reiseführer 100 Kilo Herz: Was muss man in Leipzig unbedingt gesehen haben?
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