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AJJ:
The Bible 2
Leicht machen AJJ es einem ja nicht. Schon "Christmas Island", das letzte Album der Band und das letzte unter dem Namen Andrew Jackson Jihad, inspirierte mich erst zu einem eher durchwachsenen Review und dann zu den größten Gefühlen, die Musik so hervorbringen kann. Schließlich wurde es mein Album des Jahres. Einen maßgeblichen Anteil daran hatte der das Album genial abschließende Song "Angel Of Death", und darin der kleine Junge Cody, der keine Freunde hat und den ganzen Tag Limo trinkt und in Abrisshäusern rumhängt. Sean Bonnett sagt über Cody, dass er sehr wütend sei, aber nicht wisse wohin mit seiner Wut; eigentlich ist Cody traurig, und das wisse er, weil er selber ein Cody gewesen sei, weshalb er auch große Sympathie und Empathie für Jungen wie Cody empfinde. "The Bible 2" nun startet mit, genau, "Cody's Theme", ja, vielleicht handelt sogar das gesamte Album von ihm, und wer wissen will, wohin die Reise mit unserem Cody geht, sollte sich das anhören, denn erzählen werde ich es ihm ganz bestimmt nicht. (Anhören geht komplett auf bandcamp.) Oder, na ja, vielleicht doch ein bisschen (SPOILERWARNUNG):

Es ist aber auch zu schön. Und zu traurig. Und überhaupt. Aber auch verwirrend und alles andere als einfach, wie gesagt, denn "The Bible 2" (was zur Hölle?!) wirkt mit seinem krakelig gezeichneten Cover (Bonnette hat es selbst gemalt, was für sich genommen schon mal einen Hinweis auf das Thema liefert) so ganz anders als der Vorgänger, den noch ein buntes und detailreiches Gemälde zierte. Dann startet es mit zwei Liedern, die mit komisch verzerrten Gitarren und ebenso komisch verzerrtem Gesang aufwarten, und das gefiel mir zunächst überhaupt nicht. (Keine Sorge, irgendwann dann doch.) Zum Glück kommt an dritter Stelle mit "Junkie Church" eine tragikomische Folk-Ballade vom alten AJJ-Schlag, hier ist plötzlich der Gesang wieder klarer und mehr im Vordergrund (das hat diese kleine Geschichte über eine Alkoholiker-Liebe aber auch verdient, da stimmt einfach alles), und mit "American Garbage" finden dann sogar Wave-Einflüsse ihren Weg zu AJJ. Der Song entwickelt sich schnell zum Hit: "If I'd be one of the girls / I'd be Shoshona / confused and rude / confused and rude", und oh Mann, was kann ich mich damit identifizieren! Spätestens jetzt liebe ich das Album, aber was dann kommt, ist, auch wenn der Gesang plötzlich wieder leiser ist, das Herzstück der Platte, die Hymne "No More Shame, No More Fear, No More Dread", in der es ganz genau darum geht und um sonst mal gar nichts, und das sauge ich auf, singe es mit, und dann geht's mir auch schon wieder gut. Wie schön!

Weiter geht's mit vier AJJ-typischen Indie-Punk-Stücken, die allerdings erneut etwas mehr Zerre und Effekte haben als gewohnt, was ich einerseits interessant, andererseits aber auch schade finde, denn AJJ finde ich dann am stärksten, wenn sie es eher minimalistisch angehen lassen. Schlecht ist das aber alles nicht, es ist schon ziemlich großartig und macht Spaß für zehn. AJJ sind nämlich - ähnlich wie z.B. Louis C.K. fürs Fernsehen und Todd Solondz fürs Kino - Künstler, die verstanden haben, dass das Leben nur mit einer großen Schaufel Humor zu ertragen ist, einem Humor aber, der davor nicht zurückschreckt, jedes noch so tiefe Tal des menschlichen Daseins auszuloten, als ginge es ums Überleben. (Okay, geht es ja auch.)

"I saw beauty, spat in its eye
I saw the light, and all it saw was my phlegm
I witnessed greatness, I kicked its teeth in
More teeth sprouted, just like the skull of a child"
("Terrifyer")

Die Texte sind dann auch wieder eine herrliche Fundgrube an Skurrilitäten. Schon "Christmas Island" nutzte Bonnette dafür, seine Fähigkeiten als Dichter auf eine neue Ebene zu hieven, und "The Bible 2" macht da weiter, skurril, gemein und poetisch. Und dunkel. So richtig dunkel wird es dann am Ende, mit "Small Red Boy" und dem als eine Art kathartisches Outro fungierenden "When I'm A Dead Boy" - Bonnette singt sich hier Scham, Angst und Schrecken ähnlich herzergreifend vom Leib wie damals in "Big Bird" (auf "Knife Man"), und auch wenn ich die Produktion ein bisschen merkwürdig finde (Gesang plötzlich total leise, Bass total laut), ist das wieder das Stück, das mich - ganz anders als "Angel Of Death", aber nicht weniger wirksam - letztlich zu Tränen rührt. Wahnsinn! Danach kann eigentlich nichts mehr kommen, es kommt aber noch ein zerbrechliches kleines Lied über den Tod, und man versteht, dass es so sein muss.

Apropos "Big (Red) Bird" und "Small Red Boy": Die beiden schweren Lieder-Brocken ergänzen sich, wenn man mal drüber nachdenkt. Der große rote Vogel, das Böse, versteckte sich unter der Stadt, tauchte unabhängig von den Ängsten, die in den Strophen beschworen wurden, immer wieder im Refrain auf, als Monolith, dem nichts etwas anhaben kann. Und der kleine rote Junge in Bonnettes (oder Codys?) Bauch, auch er ein Symbol für das Böse? Am Ende von "Big Bird" taucht ein Messer auf, und das wird nun benutzt: Der Junge wird herausgeschnitten, in ein Slayer-Shirt gesteckt, aufgezogen und geliebt - da stellt sich jemand seinen Ängsten und seiner Menschlichkeit, und nur deshalb kann er am Ende triumphieren mit KEINE SCHAM MEHR, KEINE ANGST UND KEIN SCHRECKEN!, dem Motto von "The Bible 2", diesem so herrlich wahrhaftigen Album mit dem so herrlich bescheuerten (aber ebendrum wahren) Titel. Danke!
tenpints 08/2016
Hörprobe:
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AJJ
Musikstil: Punk, Indie
Herkunft: Phoenix (USA)
Homepage: www.ajjtheband.com
AJJ - The Bible 2

Stil: Punk, Indie
VÖ: 19.08.2016, LP, CD, Digital, SideOneDummy Records (Link)


Tracklist:
01. Cody's Theme
02. Golden Eagle
03. Junkie Church
04. American Garbage
05. No More Shame, No More Fear, No More Dread
06. Goodbye, Oh Goodbye
07. White Worms
08. My Brain Is A Human Body
09. Terrifyer
10. Small Red Boy
11. When I'm A Dead Boy

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