Thorsten Nagelschmidt:
Der Abfall der Herzen
Als ich las, dass Thorsten “Nagel” Nagelschmidt (Sänger von Muff Potter, Autor, Künstler, etc.) ein neues Buch veröffentlicht, war ich zunächst wenig interessiert. Zum einen fand ich doof, dass er den dämlichen Kommentar von dem Terrorgruppen-Sänger zur sexistischen Kackscheiße des Dickies-Sängers geliked hatte und sein sein letztes Buch “Drive-By Shots” war in Ordnung gewesen, aber die Lesung besser und dann hab ich das Buch nicht zu Ende gelesen. Zum anderen reizte mich der Titel nur mäßig - “Abfall der Herzen”, damit lockt Mensch doch keinen Hund hinterm Kamin vor. Wie der Titel des Ärzte-Albums “Planet Punk”, wo sowohl Name als auch Artwork unterirdisch waren.
[Einwurf von Nagel: We owe nothing - nothing!]
Irgendwo in der Welt des Internets las ich dann aber, dass es ein biographisches Buch sein soll und ich muss gestehen, damit war klar, ich muss das haben, denn mit großer Begeisterung hatte ich Nagels semibiographisches Debut “Wo die wilden Maden graben” gelesen und das Hörspiel tausendmal angehört und schließlich fand ich auch sein zweites Buch “Was kostet die Welt”, was, wenn ich richtig liege, auch biographische Züge hat, super.
Und in der gleichen Tradition legt “Abfall der Herzen” los. Kurz zusammengefasst spielt das Buch in zwei Zeitspiralen - einmal ungefähr 2015, wo Nagel nach einem Gespräch mit einem Kumpel von früher feststellt, dass er sich an den ereignisreichen und letzten Sommer in seiner Heimatstadt Rheine 1999, bevor er dann nach Münster zog, nicht mehr wirklich erinnern kann und er sich deswegen auf eine Erinnerungstour begibt und die alten Freund*innen aus der Zeit wieder aufsucht und sie zu diesem Sommer befragt. Die andere Zeit ist der Sommer 1999, der aus der Ich-Perspektive die Ereignisse erzählt: Ende einer Beziehung, Malocher-Arbeit, WG-Leben, Saufen, neue Liebe, Sex, noch mehr Saufen, sich wie ein Arschloch benehmen. Auch Muff Potter, die wie im Debut nur die Band heißt, kommt vor, aber es dreht sich diesmal sehr viel weniger um die Band - eigentlich fast gar nicht. Und wie bei “Wo die wilden Maden graben” wurden die Namen ausgetauscht und Nagel nimmt sich raus, das Biographische mit Fiktion zu unterfüttern.
Unschlagbar ist wieder einmal die Sprache. Diese ewig langen Sätze - ohne Punkt und Komma schreibt er, so dass einem schon schwindelig wird und ich des öfteren auf meinem Kindle eine Seite zurückwischen musste (Bücher sind so retro und viel zu schwer, aber Vinyl hab ich trotzdem!), um noch einmal nachzulesen, wie dieser Absatz, der eigentlich nur aus diesem einem Satz besteht, begann. Dadurch bekommt der Lesende, also ich, das Gefühl, voll dabei zu sein, denn so holprig, wie sich der 22 Jahre alte Nagel benimmt, so holpert auch manchmal der Lesefluss. Er, der Protagonist, will nix anderes machen außer Musik, Saufen, Feiern und das am besten mit seinen Freund*innen und wenn's passt auch mit seiner Freundin, die aber gleich zu Beginn des Buches kein Bock mehr auch ihn hat und geht. Nagel, sauer, eifersüchtig, pathetisch (Herzschmerz-Tattoo auf der Brust) und irgendwie auch fassungslos, wie ein Kiffer (negativ konnotiert) ihm die Freundin streitig machen kann und stolpert weiter durchs Leben - und irgendwie hängen alle seine Freund*innen dabei auch ganz schön rum. Dabei fällt es schwer, nicht beeindruckt von dem jungen Nagel zu sein, denn das, was er tut - nur Musik, scheiß aufs Studium, Arbeit, Rente, lieber Lacke bei Multicolor Steinmeier anrühren (aus “Wo die wilden Maden graben”) oder kitschige Holzdeko verpacken - ist romantisch. Das übt eine unglaubliche Faszination auf mich aus, und da muss ich offen zugeben, dass ich neidisch bin, nicht den Mut gehabt zu haben, die Musik über alles gestellt zu haben, sondern auf Nummer sicher gegangen zu sein und jetzt eine halbwegs vernünftige Rente zu bekommen [irgendwann in 30 Jahren vielleicht...warten wir mal ab...ok, nein, keine vernünftige Rente]. Und dazu die ganze Zeit diese Haltung: Saufen, fressen, kiffen und ficken und dann ist alles gut und mehr braucht es nicht - hier und da Nazis anpöbeln - das ist wie ewige Semesterferien oder ein lasch geführtes Studium, wo eigentlich klar ist, es wird eh nicht beendet. Konterkariert wird das aber durch die bedrückende Enge der Kleinstadt, in der fast alle scheinbar unglücklich hängen geblieben sind.
Nagel schafft es dabei, das Depressive nicht depressiv zu schreiben und zu beschreiben, sondern humorvoll, eindrücklich und sehr mitfühlend. Der dazugemischte Lo-Fi-Filter (gibt's auf Instagram) verhindert, dass das Buch zu einem Roman à la Stuckrad-Barre verkommt, sondern dem Lesenden, der vielleicht nicht aus der westfälischen Provinz kommt (wie ich), eben jene und die entsprechende Zeit bildhaft näher bringt. Das ist auch wichtig, denn die Leiden des jungen Nagel lassen, aus dem Zusammenhang gerissen, durchaus Raum, für einen kitschigen Coming-of-Age-Roman à la Soloalbum, den Teenies Anfang der 0er-Jahre zwischen warmen Billig-Rotwein und Möbeln von Ikea’ (Frau Potz - Spacegewehr) verschlungen hätten. Da ist zum Beispiel das makrige Eifersuchtsgehabe des Protagonisten, das einem einem phasenweise derbe auf den Senkel geht und es gibt genug Stellen, da denkt Mensch: Das hast du jetzt nicht wirklich gesagt/getan???!!! Aber genau das, dieses Hose-runter-lassen des Autors in Kombination mit dem Rest des Textes, ist das, was das das Buch von so vielen langweiligen, humorlosen Mucker-Biographien-Romanen, wie der von Bruce Springsteen oder den Toten Hosen (ok, schlechtes Beispiel, weil die ohne fiktionale Elemente sind, aber was es eigentlich - vor allem bei den Hosen - noch schlimmer macht), absetzt. Außerdem gibt sich Nagel die Mühe, die anderen Charaktere a.k.a. seine Freund*innen nicht nur als blasse Worthülsen rumirren zu lassen, deren einziger Zweck die Darstellung des Protagonisten ist.
Also insgesamt ein gutes Buch. Ich glaub, ich mag das Debut lieber, aber “Abfall der Herzen” hat mich schon auch ganz schön mitgenommen und das ist immer ein gutes Zeichen für ein Buch. Ich glaub, Nagel möchte übrigens nicht mehr Nagel, sondern Thorsten Nagelschmidt genannt werden. Hab ich jetzt nicht gemacht. I owe you nothing *lol*.