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Pisse:
s/t
Hallo, mein Name ist Dr._Lü-Ken_moderiert. Ihr kennt mich wahrscheinlich noch von Rezensionen zu „Rolfs Schulweg-Hitparade“ oder zu „Einfach nur Gin: ein Gin für jeden Anlass“. Heute habe ich die Ehre, euch die neue Pisse-Platte „Pisse“ vorzustellen.

Prolog (interessiert dich das nicht, lies weiter beim Hauptteil): Eigentlich wollte ich an dieser Stelle ja Jonny Kurt und die Hühnerficker-Kombo besprechen. Meine erste eigene Rezension! Vor gut zwei Wochen mache ich mich also auf den Weg ins Hauptquartier vom Chef. Mein Aufwachsen auf einem Bauernhof in der tristen norddeutschen Tiefebene qualifiziert mich doch in höchstem Maße, denke ich zu dem Zeitpunkt. Nichtsahnend werde ich in Fös Loft eingelassen, um es wenige Augenblick später mit Tränen überströmt fluchtartig zu verlassen. Fö hat einen dahergelaufenen Typen mit zwei Hühnern im Hof mir vorgezogen. Weinend liege ich in meinem Bett und schäme mich. Meine erste Rezi: Ich hatte so viele Pläne... Ich blicke auf mein Handy. Acht Anrufe in Abwesenheit. Schließlich erhalte ich eine Sprachnachricht vom Chef. Er sagt, es tut ihm sehr leid. Er verspricht mir eine Schachtel angebrochener Mon Cheri mit der Geschmacksrichtung Wodka und die neue Platte von Pisse zur Rezension. Noch tief getroffen von seiner Zurückweisung nehme ich dennoch seine Entschuldigung an und finde einen Tag später die versprochenen Mon Cheri und die Pisse-Platte im Briefkasten. Unter diesem Eindruck und dem leichten Wodka-Schmiersuff entsteht diese Rezension.

Hauptteil: 2020, geil, neues Pisse Album! „s/t“ erscheint wieder beim Qualitätslabel Phantom Records. Und damit haben auch Pisse endlich ein selbstbetiteltes Album im Plattenregal. Wie so oft bei Bands, die mensch mag, ist jede neue Platte aber mit einer Mischung aus Vorfreude und Nervosität verbunden. So ist es doch stets der Spagat aus Bekanntem und Neuem, der mich mit ungewissem Gefühl hoffen und bangen lässt: Werden Pisse die neuen Lieblinge des Feuilletons? Werden sie zur Hipster-Band oder bleiben sie DIY-Punks? Später dazu mehr.

Zur Optik: Vor dem Konzert in Mülheim habe ich mehrfach bei Bandcamp das Album gehört. Dabei war das Artwork nicht wirklich erkennbar. Erste Assoziation: ach, langweilig, irgendwas Psychedelisches. Dann halte ich die Platte das erste Mal in der Hand und bin überwältigt. Dem Kleistermeister und hauseigenen Bierschinken-Artist Zwock muss ich nach mehreren Minuten des Sabberns langsam aber sicher die Zunge wieder in den Mund zurückschieben, durchblickt er doch zuerst den ganzen Zauber hinter dem kunterbunten Treiben: Das ganze Artwork besteht aus Graffitis von SprayerInnen wie z.B. keyhole, kess, fako, 161dresden uvm. Jeder Songtitel des Albums wurde von den SprayerInnen an Zug oder Wand gebracht und im eigenen Style gestaltet. Vor so viel Arbeit, Vorlaufzeit, Ideenreichtum und Detailverliebtheit ziehe ich meine „Keep America Great“-Cap. Nach den Artworks von „Mit Schinken durch die Menopause“ mit dem unverwechselbaren Jonny Kurt (s.o.) auf dem Cover sowie dem Bananen-lastigen „Kohlrübenwinter“ kündigt sich hier bereits optisch der nächste große Wurf an.

Zur Musik: Pisse, die sympathischen Synthiepunks aus Hoyerswerda, legen direkt mit „Die fetten Kinder“ los und knacken doch gleich die für sie untypische Zwei-Minuten-Marke. Das Tempo ist hoch, die Stimmung düster, die Texte bissig („Ein Geschwätz aus dem Ghetto deiner Belanglosigkeit“), die Äußerungen bleiben aber wage, die Interpretationsmöglichkeiten wie immer hoch (die Eintönigkeit und Einfalt des Westens? Wer weiß!). Düster und rau geht es in „Duracell“ weiter. In Zeiten von Tinder und aufgestylter Optik (#nofilter) thematisieren Pisse hier das auf bloße Performance ausgelebte Sexleben der Menschen. Der Duracell-Hase dürfte dabei eher dem Fernsehpublikum der 90er noch bekannt sein für seine ungeahnte Ausdauer. Auch „s/t“ läuft wie die Vorgängerplatten nicht nebenher. Die Platte klingt viel post-punkiger und hardcore-lastiger als bisherige Veröffentlichungen. Es geht ungeahnt düster und unmelodiöser weiter: „Die Jalousien zugezogen/ Flasche an Hals/ Angenehm straff“! Welch ein gutes Gefühl! Auffällig ist, dass sich beim ersten Hören deutlich weniger vermeintliche „Hits“ auftun. Viele Songs zeigen deutlich weniger Melodien und arbeiten mehr mit Wiederholungen. Auch bei „Draußen Zuhause“ geht es ähnlich zu. Dunkler Synthie- und Gitarren-Sound tragen durch den Song. Es scheint sich hier schon fast um eine dunkle Zukunftsvision zu handeln: Pseudo-Ökos, die wandernd durch die Gegend laufen (#draußenzuhause, Instagram zeigt 40K Bilder an), die dauernd auf ihr Smartphones starren, die in Outdoorjacken durch die verwüstete Landschaft streunen und das vermeintliche Naturerlebnis suchen. Das Ende von Seite A ist das grandiose „Zu viel Speed“. Hier dreht sich alles um die Droge und damit verbundene Erscheinungen in den späten Morgenstunden. Erstmals wird es hier ein wenig ruhiger, ein wenig psychedelisch dazu, das Theremin ist deutlich zu hören, der Synthie klingt nach Hammond-Orgel, die Gitarre nach Country, das Schlagzeug nach Pop.
Die B-Seite nimmt den düsteren und hardcore-lastigen Sound weiter auf. Es geht los mit „CO² Bilanz“. Der Song bleibt wie immer mehrdeutig: Er befasst sich vermeintlich mit politischer Heuchelei auf der einen Seite („Hände geschüttelt, Zäune erreichtet / den Pöbel beruhigt, die Vormacht gesichert“) und dem Trendthema Ökobewusstsein auf der anderen Seite („Aber super CO² Bilanz“). Vor Jahren noch undenkbar machen „grüne“ Clowns wie Boris Palmer solch eine Vereinigung von gegensätzlichen Einstellungen inzwischen salonfähig. Auch der Song „Feind/Fehler“ mag sich mir nicht völlig erschließen. Alles klingt nach einem Albtraum von Leben („Der Wecker klingelt / Ich wache auf im Körper des Feindes“). Der treibende Gitarrensound hetzt einen durch den Song über das nach außen hin perfekt aussehende Leben (Nachbarn grüßen, an alles denken, Sex), das bei genauem Hinsehen doch sehr leer wirkt. Highlight des ganzen Albums ist für mich der Song „Fliegerbombe“. Blindgänger, die es hier im Ruhrgebiet auch zuhauf gibt, warten tief in der Erde als kleiner „Gruß aus der Vergangenheit“ auf ihre „späte Rache“. Die Entnazifizierung kann also doch noch nachgeholt werden? Richtig starker Song, Pisse. Gleiches gilt für „Kündigung“: Trashiger Text („Ich brech das Thermometer auf / Ich trinke das Quecksilber aus“) und mehrfache Wiederholung des Refrains („Ihr könnt mich nicht feuern, ich kündige“) machen das Ganze für mich zum Ohrwurm des ganzen Albums. Zum Abschluss folgt noch das ruhige Instrumental „Jenny L“. Ein Hahn kräht wiederholt zum Schluss. Ich mag Tiergeräusche.

Anspieltipp: Fliegerbombe

Fazit: Gut, dass es dich gibt, Pisse! Das hohe Tempo und die noch dunklere Stimmung in den Songs stehen dir! Halt dich bitte weiter von den Feuilletons fern und bleib so asi, wie du bist. Von mir fünf von fünf Bierschinken.

Epilog (lies das nicht, wenn du den Prolog nicht gelesen oder nicht verstanden hast): Zwei Wochen sind verstrichen. Das Corona-Virus hat das ganze Ruhrgebiet inzwischen in seiner Hand. Ich fahre im starken Nieselregen durch Dortmund. Mit zitternder Hand klingel ich bei Fö. Wie wird unsere erste Begegnung nach dem Vorfall mit der Jonny-Kurt-Platte? Was wird er zu meiner ersten Rezension sagen, die ich ängstlich vor meiner Brust halte? Seine Sekretärin öffnet mir die Tür und bittet mich in sein Amtszimmer. Ich sitze auf einem kleinen Melk-Schemel vor Fös Schreibtisch und warte auf den ihn. Nach endlosen Minuten des Hinhaltens öffnet sich die Tür. Fö kommt herein. Unsere Blicke treffen sich. Schweigend fallen wir uns in die Arme. Alles ist erleuchtet.

PS: Pisse, wenn ihr das lest, ich hab meinen Aufnäher nach dem Konzert in Mülheim verloren. Ich brauch einen neuen! Bitte meldet euch!

Danke für euren Beitrag zu dieser Sendung.
Hörprobe:
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Pisse - s/t

Stil: Synthie-Punk, Post Punk, Punk
VÖ: 2020, LP, Phantom Records


Tracklist:
01. Die fetten Kinder
02. Duracell
03. Angenehm straff
04. Draussen zu Hause
05. Zu viel Speed
06. CO2 Bilanz
07. Feind/Fehler
08. Fliegerbombe
09. Kündigung
10. Jenny L.



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verSemmelt
(verSemmelt)
15.03.2020 13:38
4, es sind 4 Hühner
Dr_Lü-Ken_moderiert
(Dr_Lü-Ken_moderiert)
21.04.2020 23:05
Warum musst du es noch schlimmer machen?

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