Schreiben kann Thorsten "Nagel" Nagelschmidt (TN) eindeutig. Ob es jetzt Songs sind, Fanzines (wobei ich noch nie eins von seinen in der Hand hatte, sollen aber gut gewesen sein) oder seit 2007 Bücher, er findet eigentlich immer die richtigen Worte um eine Geschichte zu erzählen. Ich denke da z.B. an Songs wie "Am 5. Oktober, wie jedes Jahr" oder "Von Wegen (aus Gründen)" und seine Bücher habe ich allesamt verschlungen. Letztere waren bisher sehr stark biographisch geprägt, bzw. vielleicht sogar eigentlich Autobiographien mit (kleinen) Veränderungen - das weiß natürlich nur TN selber - aber im Interview mit bierschinken hat seine jüngst wieder reaktivierte Band Muff Potter in Form von Brami ein wenig bestätigt, dass TN ein Elefantengehirn hat und sich an alles mögliche erinnern kann und ja eh schon ewig Tagebuch schreibt, was wir spätestens seit seinem letzten Werk "Abfall der Herzen" wissen.
Das neue Buch "Arbeit" hat auf den ersten Blick nix Autobiographisches an sich. Wobei, es spielt in Neukölln, Kreuzkölln (für alle Nicht-Berliner: der Teil zwischen Neukölln und Kreuzberg am Kanal und drum herum) und Kreuzberg und hier lebt auch der Autor (hat er zumindest mal). Und eine Sache, die sich zumindest in Teilen aus den alten Werken von TN auf das neue Buch übertragen lässt, ist, dass keine Menschen mit glatten einfachen Biographien im Mittelpunkt stehen, sondern Menschen, deren Leben nicht in die Gala oder in Schöner Wohnen passt, sondern wo es hakt, sie mit Geistern der Vergangenheit oder der Gegenwart kämpfen und auch - nicht immer - gerade deswegen sehr sympathisch sind. Es ist ein Episodenfilm in Buchform à la Pulp Fiction - verschiedene Erzählstränge aus verschiedenen Perspektiven, die aber alle irgendwie zusammenhängen, eingegrenzt auf einen Abend und eine Nacht von Freitag auf Samstag und alles dreht sich ums Arbeiten und die meisten haben nur bedingt Spaß dran. Es fängt an mit Bederitzky, in seinem Kopf und seinem Herzen Musiker und Tontechniker (hat mal beim MDR gearbeitet), aber in der Realität hält er sich mit Taxifahren über Wasser und das auch eher nur schlecht als recht. Kein schlechter Mensch, aber er bekommt nicht so richtig was auf die Kette und manchmal sind Dinge, die er tut oder sagt, echt zum Fremdschämen ungeschickt - einem Fahrgast, der ihn später um ganz viel Geld bescheißt, sagt er allem Ernstes, dass dieser zu viel Parfüm aufgetragen habe und lästert über dessen Heimatstadt. Er meint es freundlich-witzig-ironisch, aber es kommt nur panne rüber und ich musste kurz das Buch weglegen, weil ich nicht fassen konnte, dass der das jetzt echt sagt. Sozial kompatibel ist was anderes. Felix/Flix ist ein Drogendealer mit Herz, der im Knast war und jetzt eigentlich clean mit Expertise Pillen, Koks und Gras weiterdealt - er berät nicht nur seine Kunden, die gerne mal in seiner Weddinger Bude abhängen gut darin, was sie nehmen sollen, sondern versucht auch, dem fertigen Peppi zu helfen - der hängt dauernd bei ihm ab, u.a. weil seine eigene Wohnung mega die Messie-Bude ist und er sich da null wohlfühlt. Flix hat Herz und Verstand, doch das nüchtern bleiben unter lauter Druffies packt er dann doch nicht, geht feiern und baut Scheiße. Dann gibt es da Marcela aus Kolumbien, die in Berlin studiert und sich Kohle als Essensauslieferfahrerin (Fahrrad) verdient, gerade abgetrieben hat und trotzdem die Schicht macht, obwohl sie sich eigentlich schonen soll, aber Angst hat, den Job zu verlieren, das Studium dann abbrechen und voller Scham nach Kolumbien zurückkehren zu müssen. Oder Tanja und Tarek, die einen der Rettungswagen aus der Feuerwehrwache in der Wiener Straße fahren und die sich eigentlich sehr gut verstehen und mögen, gemeinsam Leben retten, aber doch sehr unterschiedliche Leben und Lebensansätze haben. Osman und Pascal hängen bei Reinhold ab, der ihnen Essen, Kippen und ne Playstation hinstellt und sonst ne ziemlich creepy Type ist, aber die Jungs genießen, dass sie hier ihre Ruhe vor ihren Familien haben. Anna, Bederitzkys Freundin, hat nen Kiosk, wird ausgeraubt und leidet seitdem an Schlafproblemen - und so richtig glücklich mit dem Laden ist sie eh nicht, aber besser als ihr Agenturjob, den sie vorher hatte. Ein namenloser Geflüchteter erzählt einem Menschen mit iPhone seine Fluchtgeschichte aus Guinea und warum er jetzt im Görlitzer Park "Päckchen" verkauft. Schüngelmann und Christina sind Polizisten und in Kreuzberg unterwegs - er alter Hase und redet gerne viel von sich und sie relativ neu, aber will aufsteigen und Karriere machen und trotzdem empathisch bleiben dabei. Der Ex-Rocker Sheriff arbeitet im Hostel und langweilt sich, aber ist froh, den Job zu haben, weil er sonst nix hätte. Ingrid hat zwar ihren Second-Hand-Buchladen, aber der läuft schlecht und so besonders das Verkaufstalent ist sie auch nicht, aber ihre Geradlinigkeit macht sie wiederum unglaublich sympathisch. Und Ten, Türsteher in einem Club, der als einziger aus der Ich-Perspektive erzählt und sich direkt an die Lesenden wendet.
Die Geschichten, die diese Protagonisten an dem besagten Abend erleben, wären an sich allesamt schnell erzählt und für sich genommen auch nicht völlig überragende schriftliche Bio-Pics - aber TN greift tief in die Biographie und Seele der von ihm erfundenen Figuren und bringt teilweise sehr kleine, manchmal auch größere Details zum Vorschein, die dem Lesenden ein viel umfassenderes Bild und eine wunderbare Identifikationsfläche mit den Personen bietet. Tarek hat zwar türkische Wurzeln, aber türkisch im Job würde er nur reden, wenn's um Leben oder Tod gehen würde - warum, bleibt offen, aber regt die Phantasie an. Bederitzkys Demos, die er hemmungslos seinen Fahrgästen vorspielt (ihnen aber nicht sagt, dass die Songs von ihm sind) müssen nicht besonders gut klingen, aber er liebt sie. Und wie sie klingen, kann sie sich jeder selber ausmalen. Osmann fühlt sich nicht ernstgenommen von seinen Eltern und sein streng gläubiger Bruder gibt ihm noch dazu Hölle bei jeder Gelegenheit und als arabischstämmiger Jugendlicher kommt er eh kaum in irgendeinen Club rein, selbst wenn er alt genug dafür wäre - Rassismus erfährt auch Ten und auch wenn er für seine Arbeit geschätzt wird, so weiß er auch, dass sein Chef Tens dunkle Hautfarbe (Vater kommt aus Mosambik) ausnutzt, um sich vor Rassismus-Vorwürfen an der Tür zu schützen. Der Geflüchtete aus Guinea beschreibt nicht nur seine Flucht, sondern öffnet seine Seele, die Scham darüber, Drogen zu verkaufen und die Einsamkeit und Angst - und das bedrückt. Zu recht. Flix' Geschichte macht immer wieder Einschübe in die Vergangenheit und erzählt, woher er kommt (Kassel) und wie er in Berlin einfach durch alle Türen gerannt ist und es keine Bremse gab und du denkst "Ok, kenn ich oder hab zumindest mal von jemanden gehört, dem es auch so ergangen ist". Da ist Ingrids toter dickköpfiger Mann, den sie unendlich liebt und wegen dem sie an dem Buchladen festhält und Tanjas Hobby/Zweitjob als Sexarbeiterin, was sie auch macht, um die Kohle fürs Medizinstudium zusammenzuhaben, aber auch weil es ihr Spaß macht. Die und all die anderen kleinen Seitenstränge lassen die Geschichten und seine Menschen zu einem klasse Buch zusammenlaufen und die endlosen Sätze ohne Punkt und Komma geben die Geschwindigkeit vor - lesen, lesen, lesen!
TN ist der erste nicht-bio-Roman geglückt, besser gesagt, mehr als geglückt. Spannende Geschichten über interessante Menschen, die vermutlich täglich an meinem Fenster in der Sonnenallee vorbeifahren und ich könnte ihnen winken und denken, über dich habe ich mal was gelesen. Und trotzdem nehme ich mir raus, etwas von TN auch in diesem Buch wiederzuerkennen - das eigene Verhältnis zu Lohnarbeit, die Jobs die der Autor machte, um seine Musik mit Muff Potter zu finanzieren, auch sie waren Arbeit die meistens nur bedingt Spaß gemacht hat. Aber sie wurde gemacht. Vermutlich stand TN auch einfach selber ein paar Nächte auf der Schlesischen Straße oder in Kreuzberg und hat die Menschen beobachtet. Denn fast jeder Satz lässt einen gut mitgehen an die Stelle, wo sich die Protagonisten gerade befinden. Das Antideutschenbashing von Ten ist vielleicht Tens Haltung oder die des Autors - ich finde es übertrieben, aber das nur so am Rand!
Das Buch ist geglückt und mich hat es glücklich gemacht.