Freizeit 98 kommen aus der bayrischen Provinz, sprechen auch so und sind die herausragendste unbekannte D.I.Y. Indie-tronic (gibt es das Genre überhaupt noch?) Deutschlands. Und nicht nur, dass sie seit fast 20 Jahren fast alles selber machen, vom Aufnehmen übers Mischen, veröffentlichen und Touren buchen, macht sie eigentlich zu einer Punk-Band, auch wenn sie vielleicht nicht nach Slime oder Green Day klingen mögen. Wobei sie durchaus mit brettigen Gitarren und derben Tempo mal angefangen haben. Aber das Frickeln, Grenzen Eintreten und Synthies plingen lassen hat diese Band schon immer mehr interessiert als Szene-Punks. Darum sind die es wohl auch nicht, obwohl sie es verdient hätten. Markus, Gero und Andi sind die nettesten sympathischsten Menschen der Welt, haben nicht nur das Herz am rechten Fleck, sondern auch die linke Faust in Tasche und seit ein paar Jahren sind sie auch mit Kolo zu viert unterwegs.
Regelmäßig releasen sie Tonträger, die sie irgendwo in der Welt mischen oder mastern lassen, touren von irgendwo in der Steiermark bis irgendwo in Brandenburg und lassen Künstler*innen freakige Videos zu ihren Songs schneiden oder machens sogar einfach auch selber.
Jetzt nach um und bei fünf Jahren kommt die neue EP - konsequent wird wieder gefrickelt, der Sound blinkt und glitzert und baut eine Wand auf, der die Tanzfläche einzäunt und niemanden mehr rauslässt.
“Am Ende alle” geht steil nach vorne, wartet nicht auf eine Introduction, sondern wummert ins Gemüt. Sozialkritik? Klar. Drei Minuten? Mehr oder weniger standard. “Automatisch” klingt erst einmal technik-kritisch, ist aber angesichts der Produktion eher eine musikalische Umsetzung von Tron, dem ersten Computer-Welt Film aus den 80ern. Und warum nicht. Mensch könnte auch hören “Alles wird jetzt Alexa automatisch” - passt auch. Und zwischendurch holt der Song die große Synthie-Oper aus den PlugIns - großes Kino, liebe Mitmenschen! “Ein Schritt vor, zwei zurück” rumpelt tight als Krautstück mit unnervigem Gepfeife (und das muss Mensch erst einmal hinbekommen) vor sich her und erinnert weit entfernt an dieses Mitte der 2000er Studentenpartyding “Young Folks” von Peter Björn und noch wem - aber deutlich weniger nervig nüchtern zu ertragen, weil denn dann doch eher schräg als HitHit. “Herr Kunz” holt wieder die Tanzbarkeit an erste Stelle und auch wenn alle Beteiligten zu jung sind, in den 80ern die Tanzflächen von Underground Berlin besucht zu haben (und aus Bayern kommen) könnte die Nummer auch aus West-Berlin kommen und Inga Humpe hätte ihre Finger mit drinne. “Herr Kunze verlässt die Stadt” - warum erfährt die hörende Person nicht, aber das muss mensch ja auch nicht. Die angedeuteten “Hey” Rufe zu Beginn von “Wohnen auf Inseln” sind auch son typischer FZ98-Move, der auch von den Pet Shop Boys kommen könnte und vermutlich verreist Texter Markus einfach nach wie vor gerne auf Inseln und denkt sich dann seinen Teil. Und zum Abschluss wird noch einmal in den 80ern gewildert und mit “Zwischenwelten” The Cure bewusst oder unbewusst angeschrammt und viel mehr muss mensch auch nicht wissen - auch nicht, welche Zwischenwelt nun jetzt gemeint ist. Die Texte bleiben grüblerisch und überlassen es den Hörer*innen, sich selber einen Reim zu bilden. Aber schon immer war die Sozialkritik da und auch gegenüber gesellschaftlichen Problemen wurde kein Blatt vor Mund genommen.
Die neue EP (ja, leider wieder nur eine EP) ist einfach die konsequente und richtige Fortsetzung von dem, was vorher war - dass musst du lesende Person jetzt selber rausfinden, denn das beschreibe ich hier jetzt nicht auch noch en detail! Wenig andere Bands hätten es verdient, dass die AZ-Punker*innen ihnen die Türen öffnen und dann mit Billigbier zu der unglaublichen Live-Show vor der Bühne abzappeln und dabei mitsingen “gegen all das Festgefahrene schüttel ich meine Haare”. Solltet ihr mal dringend tun.
(Anmerkung: der Rezensent hat aus irgendwelchen Gründen die Platte in der falschen Reihenfolge gehört. Aber gestört hat's ihn nicht.)
1. Schritt vor Schritt zurück
2. Wohnen auf Inseln
3. Am Ende Alle
4. Automatisch
5. Herr Kunz verlässt die Stadt
6. Zwischenwelten
aintjustmusic () 26.01.2021 08:02 |
Video zum Titeltrack: https://www.youtube.com/watch?v=VFtiScs7tQc |