Die Geschichtsschreibung ist eine männliche, egal, wo man hinschaut, überall trifft man auf siegreiche Feldherren, stramme Generäle, bahnbrechende Wissenschaftler, einflussreiche Politiker, wahnwitzige Erfinder, geistreiche Schriftsteller, heldenhafte Widerstandskämpfer, Revolutionäre, Sterneköche, Comiczeichner, Gagschreiber, Bobfahrer. Männer schreiben halt über Männer. Warum sollte das in der Musikgeschichte im Allgemeinen und Punk im Besonderen, anders sein? Klar, gibt auch Frauen. Die werden, besonders gern in Diskussionen um Quoten, dann als pars pro toto, denn meist sind es immer die gleichen, herangezogen und dem zustimmend nickenden Publikum präsentiert. Hier habt ihr doch eure BRODY DALLE und da JOAN JETT, oh und PATTI SMITH, die ist auch schon ganz lange dabei! Bitte sehr, eure Rolemodels, jetzt gebt aber auch endlich Ruhe, ihr nervigen Frauenzimmer!
Dass es "auch Frauen" gibt, ist unbestritten. Die Frage ist, ob ihnen ihr Platz in der Geschichte zugestanden wird. Wie viele wegweisende "Platten für die Ewigkeit" sind von Künstlerinnen herausgebracht worden, wie viele Gitarristinnen oder Schlagzeugerinnen werden in Bestenlisten von irgendwelchen Hochglanzmagazinen aufgeführt, wie sichtbar sind all die Produzentinnen, Fotografinnen, Labelmacherinnen und Journalistinnen, die daran mitgewirkt haben, die Szene politisch, visuell und soundmäßig zu prägen. Kurz gesagt: wird der Input von Frauen genug gewertschätzt? Ich würde sagen, nö.
Höchste Zeit, dass jemand mal einen feministischen Blick auf die (Punk-)Geschichte wirft! In diesem Fall ist das VIVIEN GOLDMAN, ihres Zeichens Musikerin, Musikjournalistin, Dokumentarfilmerin, Songwriterin und Punk-Professorin. Letzteres ist tatsächlich ernst gemeint, GOLDMAN lehrt an der New York University zu den Themen Punk, Reggae und Afrobeat.
"Die Rache der She-Punks" folgt keiner linearen Erzählstruktur, sondern gliedert sich in die Themenblöcke Identität, Geld, Liebe und Protest, jedem Kapitel ist eine Liste mit passenden Songs der handelnden Protagonistinnen vorangestellt, mit der man ganz hervorragend seinen Horizont, sowie die eigene Musiksammlung erweitern kann.
Anhand von Interviews und persönlichen Gesprächen zeigt GOLDMAN auf, mit welchen Widrigkeiten Frauen, die Raum für sich beanspruchen und ihrer Stimme Gehör verschaffen, zu kämpfen haben, wie wichtig Punk als empowerndes musikalisches Statement ist und welche Themen heute wie damals immer noch dieselben sind. Sie bleibt dabei nicht nur in den Punk-Epizentren USA und England, sondern wirft unter anderem einen Blick nach Indien, wo der regionale Großmufti eine Morddrohung gegen das junge Punktrio PRAGAASH aussprach und somit ihre Karriere beendete, bevor sie beginnen konnte und nimmt die Leserin/den Leser mit in die von Machismo geprägte Kultur Jamaikas.
Das Buch schlägt einen Bogen von Szenegrößen wie POLY STYRENE, KATHLEEN HANNA und VI SUBVERSA zu jungen Stimmen von Bands wie BIG JOANIE, SKINNY GIRL DIET und MAID OF ACE, die nochmal einen weiteren, spannenden Blick auf die Dinge ergänzen.
Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit und ich hoffe, es trägt dazu bei, unsere Sicht auf die Geschichte zu erweitern und Sachverhalte neu zu bewerten, damit man in Punkdokumentationen nicht immer nur über die SEX PISTOLS, RAMONES und THE CLASH berichtet, sondern auch über X-RAY-SPEX, THE BAGS, ÖSTRO 430, HANS-A-PLAST, THE RAINCOATS, CARAMBOLAGE, SIOUXSIE, MALARIA, BIKINI KILL, TRIBE 8, THE SLITS, LYDIA LUNCH und all die anderen großartigen Künstlerinnen, die Punk geholfen haben, zu überleben und nicht komplett an Relevanz zu verlieren. Gern gleichwertig und nicht als kuriose Randerscheinung.
Stellt sich nach der Lektüre eigentlich nur noch die Frage, warum Punk für viele FLINTA so unattraktiv geworden ist? Klar, da fallen mir schon einige Antworten ein, aber sind wir es nicht gewohnt, für oder gegen etwas zu kämpfen? Wahlrecht, das Recht, über den eigenen Körper entscheiden zu können, gleiche Bezahlung? Was würde sich da besser als Soundtrack eignen als Punk, seit jeher eine Musik des Widerstandes? Lasst uns das Spielfeld nicht den Mackern überlassen!
