Manchmal erscheint es mir schon ganz schön schräg, dass Tocotronic zu meinen absoluten Lieblingsbands gehören (ich habe 2 Tattoos, die sich direkt auf diese Band, ihre Musik und Texte beziehen) und die Texte von DvL mich immer wieder entzücken, weil sie spielerisch, phantasievoll, surreal but nice und grüblerisch Dinge ausdrücken können, die mir so so niemals einfallen würden und auf die ich auf diesem Weg der Lyrik und der Worte gar nicht kommen würde - wenn ich sie dann aber höre, begeistern sie mich und lösen Entzücken und Verzücken aus!
Auch sein erstes Buch "aus dem Dachsbau" hatte mich schon total fasziniert - vor allem die DvLs Offenheit, sein privatestes Leben zu schonungslos zu teilen, ohne das auch nur ein Moment des Fremdschams in mir hoch kommt, der mir normalerweise bei vielen in-your-face-Passagen (egal ob Buch oder Film) reflexartig aufstößt.
Und nun sein neues literarisches Werk „Ich tauche auf“ - ein Tagebuch zum Pandemiejahr 2020 (und etwas von 2021), das sicher nicht auf Vernunft basiert und das die Grenzen zwischen Realität (Rückenschmerzen, Spaziergänge, Musik machen bzw. nicht machen können, Essen kochen, Auto fahren, Eltern besuchen) und Fiktion (Bärchen, Naturerlebnisse auf dem Balkon, Geschichten) verschmelzen lässt. Wie schon in seinen Songtexten ist diese Trennung, die ich gerade aufmache, vermutlich gar nicht so wichtig, denn es geht um das Wort und nicht darum, was machbar zu sein ist - It's all about the Geschichte:
"Du weißt nicht, was dich geritten hat
In diese tote Küstenstadt
Um dich verstreut liegen deine Papiere
Muscheln und Schalentiere"
DvL beginnt das vorliegende Tagebuch am 21. März 2020, als uns alle das Pandemiemonster in seine Klauen nahm und wir alle noch gar nicht wussten, was uns erwarten wird und wie lange es dauern wird, bis wir das Monster vertreiben werden und wie viel an Kraft, Kunst und Menschlichkeit uns diese Zeit rauben wird. Und so beginnt DvL mit "Deutschland liegt im Koma". Tocotronic gerade mitten in der Albumproduktion und nun? Rastlos marschiert DvL durch den Park vor seiner Haustür und schmeißt mit (Selbst)Kritik um sich. Ich meine, immer wieder Bezüge zu sehr alten, aber auch neueren Tocotronic-Stücken zu lesen, z.B. hier:
"In der plötzlichen Ablehnung geliebter Lektüre oder Musikstücke steckt immer auch ein befremdlicher Hass auf die Person, die man selbst noch vor ein paar Jahren war" (S. 10)
"Und im Leben geht's oft her wie in einem Film von Rohmer
Und um das alles zu begreifen
Wird man was man furchtbar hasst, nämlich Cineast
Zum Kenner dieser fürchterlichen Streifen"
(Tocotronic - Meine Freundin und ihr Freund)
Auch das bereits erwähnte Lied Prolog wird gegen Ende des Buchs zitiert:
"Auch ich bin porös wie ein Schwamm. Nur gut, dass ich fast alle Wege in dieser toten Küstenstadt bei Tage zurücklege." (S. 117)
Die sich auf die Pandemie einstellende Gesellschaft, die mit Online-Sport, Online-Yoga, Online-Besäufnis und Stay-at-Home-Slogans versucht, eine Antwort auf die Isolierung zu finden, schaut er wütend an, denn "Wie schnell sich der Selbstoptimierungswahn unserer Zeit während der Coronakrise mit modischen Erzählungen über Achtsamkeit, Empathie und Entschleunigung verbunden hat" ist ihm unheimlich und "Empathie bleibt ein scheinheiliger Begriff", denn "diese Gesellschaft ist genauso gnadenlos, ungerecht und kriegerisch [..] wie alle anderen vor ihr. Achtsamkeit zielt nur auf sich; eine pervertierte Form der Solidarität. Und wenn man in Entschleunigung verharrte, bis man bedrohte Menschen endlich Hilfe leisten würde, wäre es vermutlich längst zu spät. Für die Geflüchteten in Moria aber drängte die Zeit". (S.11) DvL und seine Band Tocotronic waren und sind immer kritisch mit der Gesellschaft und den Menschen, die sie formen. Vielleicht sind sie etwas milder geworden über die Jahre - so erscheint es zumindest manchmal, wenn mensch Jan Müllers "Reflektor Podcast" hört. Aber DvL bleibt dankenswerterweise doch auch immer noch radikal und genauso wie er seine Abneigung von Biomarkt-Betreiber*innen zum Ausdruck bringt und damit sehr an die Textzeilen "Gitarrenhändler ihr seid Schweine, Gitarrenhändler ich verachte euch" des Stückes "Hamburg rockt" erinnert, so bringt er seine Abscheu gegenüber den Coronaleugner*innen und Mitläufer*innen der Hygiene-Demos deutlich zum Ausdruck! (S.19) Eben jene letztgenannte Gruppe sollte dann kurze Zeit später das relativ spontan veröffentlichte Stück "Hoffnung" der Gruppe Tocotronic für ihre Zwecke vereinnahmen, was die Band offenkundig zuwider war. (S.23) Gleichzeitig feiert er die junge Generation und ihren Aktivismus und ihre Musik (Billie Eilish S.212) und es ist schön zu lesen, dass der Mief des alten weißen Mannes nicht unbedingt an DvL zu kleben scheint. Es beruhigt mich und gibt mir auch für mich Hoffnung.
Auch in diesem Buch lässt DvL die Lesenden vermeintlich in sein Privatleben schauen. War vorher Berlin im Zentrum der Tagebücher, wird mit einer "Zweitwohnung" in Buckow ein anderes Szenario aufgemacht - wo DvL in der Natur spazieren geht und den Kopf kühlt, auch wenn die Angst vor Corona sich auch da nicht verdrängen lässt (S. 28) und wo die zu Beginn der Pandemie aufkommende Meinung, auf dem Land sei derzeit alles besser (die kurzzeitig mich selbst und meinen Bekannt*innenkreis umwehte) sich als eine schmerzhafte Bärenfalle herausstellte. Dort in Buckow trifft er auch Thorsten "Nagel" Nagelschmidt, der bei der Gartenarbeit Anzug trägt und sein neues Buch "Arbeit" verschenkt. (S.50) Keine besondere Geschichte, nur dass das Buch wirklich gut ist, wie ich hier schon einst schrieb, und dass es einfach eine von vielen Begegnungen ist, die in diesem Buch verarbeitet werden, aber einige der wenigen, wo ich die Protagonist*innen eindeutig verordnen kann.
"Und wie man allerorten hört
Wird die Gartenbaukunst hier noch gerne gepflegt"
(Tocotronic - Let there be rock)
DvL liest viel und immer wieder stellt er die gelesene Literatur in den aktuellen Zeitkontext. Meistens kenn ich die Autor*innen nicht und nicht immer ist mir klar, was mit der Textpassage zum Ausdruck gebracht werden soll, aber ich weiß auch nicht, ob John Grisham besser gepasst hat, den ich sehr gerne lese. Nein, ich muss nicht alles verstehen, was DvL schreibt, um das Buch genießen zu können. Manche Einträge sind dabei einfach sehr kurz, aber wir alle wissen ja, dass viele Worte nicht unbedingt mehr Inhalt transportieren.
"15. Mai, Berlin
Einer dieser Ereignislosen Tage.
Abends schickt Isabell Graw eine SMS:
>Aus Mozarts Tagebuch 1770:
Gar nichts erlebt. Auch schön.<"
(S. 46)
"15. Oktober, Berlin
Groggy."
(S. 136)
Manchmal sind die Tagebucheinträge auch von Lethargie geprägt, wenn DvL. beschreibt, dass er den Gitarrenkoffer entstauben muss oder monoton auf dem Balkon steht. Auch das erscheint nicht ungewöhnlich, angesichts der kräfteraubenden Isolationszeit, egal ob alleine, mit Kids oder anderen Menschen, die besondere Aufmerksamtkeit bedürfen. Selbst den anti-sozialsten Menschen, die ich kenne, die sich zunächst über die Pandemie erfreuten, weil sie keinen Zwang mehr verspüren mussten unter Menschen zu gehen, wurde irgendwann langweilig und träge zumute. Da überrascht es nicht, dass DvL immer auch die bereits angesprochene Surrealität einfließen lässt. Das beste Beispiel ist "Bärchen", ein etwas, das regelmäßig auftaucht, zu Bett geht oder sonstwie eine Regung zeigt und dessen Rolle nicht genauer spezifiziert wird. (z.B. S.129) Und mir ist auch nicht klar, warum dieses Wesen da ist, außer der Monotonie ein bisschen Einhalt zu gewähren. Und dazwischen Sätze wie dieser, die in ihrer Schlichtheit nicht minimaler geschrieben werden könnten, aber in mein Herz eindringen und wie ein Tattoo da für immer sein sollen:
"Im Spielzeugladen nebenan kaufe ich eine Handpuppe der Firma Monster to go. Wenn man sich die Monster zu sich nach Hause holt, verlieren sie ihre Macht." (S. 59)
Das Buch beinhaltet viele textliche Schätze und natürlich springen mich die zuerst an, wo ich Textzeilen wiederzuerkennen vermeine. Aber auch so lässt es sich fluffig lesen und vermag mich als Lesenden so an sich zu binden, dass ich das Buch in einem Schwung in zwei Tagen durchlese und nebenbei darin rumkritzel und es mit Eselsohren der Erinnerung verziere. Im Verlauf des Buches nehmen diese aber ab und ich versinke und denke nur ab und an - ja, "Transformers", das habe ich als Kind geliebt und schließe daraus, dass DvL auch keine Hemmung vor dem Mainstream des Mainstreams zu haben scheint. (S.108) Ja, ok, dafür schätze ich ihn jetzt noch mehr. Zwischendurch brechen Bilder und einfache Zeichnungen das Buch, manchmal eher abstrakt und trotzdem scheint es sich einer Tocotronic-Referenz zu bedienen. Oder auch nicht und ich bilde mir das alles ein. Aber dann hat das Buch auch seinen Zweck erfüllt und meine Phantasie zum Rauschen gebracht. Seine Cola (Zero) kauft DvL auch an einem Samstag an (s)einer Tanke und das in Berlin, wo es von Spätis / Kiosken, die auch am Samstag (und meist auch Sonntags) aufhaben - diese sympathische Schrulligkeit durchzieht an so mancher Stelle das Buch und bildet ein Konglomerat mit den Ängsten, der Liebe für J, dem kalaurigen Humor, mit der Rastlosigkeit, die sich mit der Lethargie die Hand gibt, so dass die prägnante Tagebuchstruktur nie langweilig wird - höchstens kurzweilig, aber ich bin mir gerade unsicher, ob dieser Satz so überhaupt Sinn macht. Muss er m.E. aber auch nicht.
"Der Blick nach vorn. Das Glück im Rücken" Gibt es ein schöneres Ende für ein Buch? Vielleicht, aber ich liebe es, wie ich auch Hugh Grant Filme liebe. Surreal but nice, surreal but nice!
21.März 2020 bis 21.März 2021