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Amyl & The Sniffers:
Cartoon Darkness

Pre-Listening ist eines der Vorteile, die man als Rezensent genießt und im Fall des neuen Amyl & The Sniffers Album "Cartoon Darkness" wurde diese Präferenz von mir ausgiebig genutzt. Dass hier etwas Großes heran wächst, ist spätestens seit dem ersten selbstbetitelten Album der australischen Gang um Frontfrau Amy Tailor klar. Nun ist ihre anstehende Deutschland-Tour bereits seit Wochen restlos ausverkauft. Größtenteils Hallen, die mehrere tausend Menschen aufnehmen können. In London steht für nächstes Jahr sogar eine ausverkaufte Show mit FOUNTAINS DC vor über 40.000 Leuten an. Der Schritt von den kleinen verschwitzten Clubs hin zu großen Festivalbühnen ist also längst vollzogen.

Ihr neues Album, aufgenommen bei Nick Launay von den FOO FIGHTERS, am gleichen Pult wie schon NIRVANAS "Nevermind", setzt da an wo sie mit "Comfort To Me" 2019 aufgehört haben. Das musikalisch wie textlich derbe "Jerkin", das zu Beginn wie ein Revival der STOOGES klingt, während Amy wieder als eine Art weiblicher Iggy Pop der Gegenwart fungiert, macht dem zugeneigten Fan dabei den Wiedereinstig sehr einfach. Den Zensurbehörden nach der Auskopplung als Single allerdings sicher nicht, so viel Pieptöne wie hier nötig waren um den Song jugendfrei zu machen. Das hymnische "Chewing Gum" nimmt dann direkt Tempo raus, bleibt dabei aber noch auf bereits beschrittenen Wegen. Dann zeigt sich schnell, dass die Melbourner ihr Repertoire stark erweitert haben ohne ihrem bekannten Stil untreu zu werden. Mit "Tiny Bikini" versucht man sich gekonnt in Hau-Ruck-Hard-Rock und mit "U Should Not Be Doing That" schielt man in Richtung stampfigen Glam-Rock. Sie beweisen Mut und wagen sich im weiteren Verlauf des Albums mit der empowernden Underdog-Ballade "Big Dreams" sogar noch ein Stück weiter in unbekanntes Terrain vor. Und selbst diesen Song mag, nein, liebe ich. Aber keine Sorge, alle Fans von den klassischen Punkrock-Nummern der Sniffers kommen mit "Motorbike Song" und "Pigs" auch auf ihre Kosten. Bei "Its Mine", das einen regelrecht niedertrampelt, zeigt sich die Band dann sogar so hart und kompromisslos, dass hier schon fast eine rockige Schneise zum Hardcore geschlagen wird. Natürlich werden auch wieder die einen oder anderen breitbeinigen Garage-Rock-Songs abgeliefert, wie man sie bereits von den Vier kennt. Dazwischen erfinden sie sich zum Teil ganz neu. So erwartet einen auf "Cartoon Darkness" zum Beispiel auch seltsamer, rockiger und partytauglicher Pop in Form von "Me And The Girls". Jeder der dreizehn Songs ist dabei nochmal verspielter und handwerklich versierter als zuvor. Überall gibt es kleine Arrangements zu entdecken, ein kleines Pfeifen und ein paar Chöre hier, ein Schellenkranz, ein Saxophon oder eine Rassel da. Man kann zudem sagen, hier sitzt jedes Riff und das Schlagzeug hat nochmal mehr Druck als bisher. Auch Amy hat ihre Gesangsfähigkeiten weiter ausgebaut. So rappt sie noch mehr und noch beeindruckender als bisher, gut zu hören beispielsweise bei "Me And The Girls". Oder sie schwingt sich gesanglich zu ganz neuen Höhen in "Bailing On Me" auf. Alles auf Cartoon Darkness ist auf Perfektion getrimmt, auf schmutzige Perfektion!

Auf ihrem neuen Album taucht Sängerin Amy immer wieder in Themen ein, die sich um Selbstermächtigung und Selbstbestimmung drehen, die somit auch ihre Entscheidung hin zu an Nihilismus und Hedonismus grenzenden Spaß bedeutet und das, obwohl man unverkennbar von einer grausamen und sterbenden Welt umgeben ist. Es geht um ihre als Rolle als Frau und wie ihr Umfeld und die Gesellschaft darauf blickt. Darum laut und stolz zu sein und um ein "fuck you" an alle raus zu schicken, die denken sie haben sich in irgendeiner Art zurück zu nehmen. Amy bleibt somit weiterhin laut, frech, provokant und offensiv. In "Chewing Gum" verkündet sie "I'm choosing to be dumb and I'm choosing bad decisions because life is too short to be right all time", was im Grunde all das aufgreift was Punk im Kern ausmacht! Sie fordert Befreiung von der Meinung und den Regeln anderer in "U Should Not Be Doing That". Feiert ihre selbstgewählte Freizügigkeit in "Tiny Bikini" und macht ihrer Wut in "It's Mine" ordentlich Luft. Trotzdem ist da eine Menge Positives, die Welt ist schlecht und hässlich, ja, aber Amy fordert uns trotzdem auf, sie als Spielplatz zu sehen, auf dem wir uns selbst verwirklichen und Spaß haben sollen. Dafür stehen Textzeilen wie "i dont wanna stuck in your negativity" (Jerkin') oder auch einfach mal ganz salopp gesagt "me and the girls are drunk at the airport, you and the boys can shut the fuck up". Alles in allem Schlachtrufe, mit denen man vielleicht wieder mehr Nachwuchs in Form von unangepassten Jugendlichen vor die Bühne bekommt, die auf der Suche nach Zugehörigkeit, Verständnis und einem Ventil für ihre Frustration sind. Die vollen Hallen auf ihrer Tour scheinen dahingehend ein gutes Indiz zu sein. Cartoon Darkness handelt jedoch auch von der Klimakrise, KI, Politik und wie die Menschen von heute in einer Flut von Informationen und digitaler Ablenkung ertrinken und dabei den Blick aufs Wesentliche verlieren. Amy fungiert derweil als die Abgesandte des Chaos und des Spaßes, die dich ermutigt das Handy wegzulegen und dein Leben auszukosten und dabei vielleicht nebenbei sogar noch etwas Gutes zu tun.

Cartoon Darkness vereint all das, was viele Jahrzehnte an Rockmusik an Großartigem hervorgebracht haben und zementiert dadurch weiter ihren momentanen Anspruch auf den Thron in diesem Genre. Meiner Meinung nach ganz zu Recht, denn die australische Band ist wohl das spannendste und mitreißendste was (Punk-)Rock in der Gegenwart zu bieten hat. Ich sehe eine Band, die vor Kraft und Selbstbewusstsein nur strotzt und dabei gleichzeitig Glanz und Gefährlichkeit zeigt. Eine Band, die auf ihrem Weg zum bald erreichten Gipfel keine Gefangenen macht und sich nicht davor scheut, Neues auszuprobieren. Ich denke, ich lehne mich mit der Einschätzung, dass ich hier eins der Alben des Jahres in der Hand halte, nicht zu weit aus dem Fenster!

Peter 10/2024
Hörprobe:
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Amyl & The Sniffers - Cartoon Darkness

Stil: Punk, Garage-Rock, Glam-Rock, Punkrock, Rock
VÖ: 25.10.2024, LP, CD, Rough Trade


Tracklist:
01. Jerkin'
02. Chewing Gum
03. Tiny Bikini
04. Big Dreams
05. It's Mine
06. Motorbike Song
07. Doing In Me Head
08. Pigs
09. Bailing On Me
10. U Should Not Be Doing That
11. Do It Do It
12. Going Somewhere
13. Me And The Girls

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